Ich fühl‘ mich heut‘ so Brandenburg
Donnerstag, 24.08.2017
Es geht mal wieder um Eishockey: Das Team unserer englischen Freunde aus Nottingham spielt am Samstag in der Champions Hockey League im tschechischen Hradec Králové, rund 700 Kilometer östlich von Hamburg. Die anderen europäischen Spiele der Nottingham Panthers sind noch weiter weg, und so liegt es auf der Hand, dass wir unsere Freunde bei leckerer tschechischer Braukunst beim Anfeuern des Teams unterstützen wollen.
Der Manager und die Zweitmutter des Sohnes fahren am Freitag sehr früh morgens direkt hin und am Sonntag ebenso direkt wieder zurück. Das ist mir zu stressig. Der Sohn hat einen sehr langweiligen, aber für ihn wichtigen Lehrgang und alle anderen sind einfach nur unschlüssig oder wollen zwar günstige Suchtmittel mitgebracht haben, aber selber nicht unbedingt dort hinfahren. Bleibt noch die Frage nach dem Chefkoch. Natürlich wird auch er mit seiner Frau nach West-Transsylvanien 😉 kommen, aber erst nach der Arbeit am Freitagnachmittag loskommen. Was solls, fährt das Didimobil eben wieder ohne Beifahrer.
Der kürzeste Weg von Hamburg nach Hradec Králové führt durch Polen. Vielleicht kann ich auf dem Rückweg noch ein wenig dieses mir unbekannte Land erkunden. Der Ursprungsplan sieht vor, dass ich am Donnerstag starte und am Montag den Rückweg antrete, um spätestens am Dienstag wieder in Hamburg zu sein, aber eine Verlängerung der Tour wäre durchaus drin.
Gegen Mittag – Didi ist endlich ausgeschlafen – wird das Didimobil gepackt, die obligatorische Kiste Fritz-Kola eingekauft und der Bulli vollgetankt. Bier gibt es dieses Mal nicht, davon gibt es in Tschechien mehr als genug und wesentlich leckerer als das heimische Gebräu ist es dort obendrein. 🙂
Die Autobahn nach Berlin ist gewohnt öde, und mit der wahnsinnigen Höchstgeschwindigkeit einer Rennschnecke macht die Monotonie der ostdeutschen Pampa die Fahrt nicht gerade erlebnisreicher. Mit einer gut halbstündigen Kaffeepause erreicht das Didimobil nach vier Stunden den Berliner Autobahnring, die ersten Wegweiser weisen gen Polen. Die „Autobahn der Freiheit„, wie sich die A12 von Berlin nach Frankfurt (Oder) und weiter nach Warschau nennt, macht ihrem Namen heute keine Ehre: Verkehrsstau, so weit das Auge reicht, hauptsächlich LKW auf dem Weg nach Osteuropa.
Bei Fürstenwalde verlasse ich die Autobahn, südlich von Cottbus soll es in Klein Loitz einen hervorragenden Wohnmobilstellplatz geben. Ich überlege kurz, bis nach Hradec Králové weiterzufahren, wäre aber erst gegen Mitternacht dort und käme um die Uhrzeit vermutlich nicht mehr auf den Campingplatz.
Kurz vor Cottbus steht ein etwas windschiefer Aussichtsturm neben der Landstraße. Der soll so sein, der Architekt wollte das so und das ist wohl Kunst. Von oben hat man einen wunderbaren Ausblick auf die blühenden Landschaften Brandenburgs und das Kraftwerk in Peitz. Rainald Grebe hat ganz sicher nicht übertrieben, als er dieses Bundesland in seinem Lied „Brandenburg“ besang. Positiv auffällig die überraschend wenigen Wahlplakate rechtspopulistischer Parteien für die Bundestagswahl in ein paar Wochen.
Nachtrag vom 30.05.2019
Der Eindruck der „überraschend wenigen Wahlplakate rechtspopulistischer Parteien“ sollte trügen. Bei der Europawahl 2019 am Sonntag, 26.05.2019, erhielt die rechtspopulistisch-nationale, europa- und ausländerfeindliche Partei AfD in dieser Region der Republik bis zu 52,4% aller Stimmen (Spremberg-Schönheide, http://wahlen.stadt-spremberg.de/ew2019.html), bei der gleichzeitig stattfindenden Kommunalwahl erreichte diese rassistische und ideologisch rückwärtsgerichtete Partei noch bis zu 45,8% der Stimmen. Ich möchte keine Reisewarnung oder Ähnliches ausgeben, aber wer mich kennt weiß, dass dieses Gebiet, in dem man als Auswärtiger bei mehr als der Hälfte der örtlichen Bevölkerung nicht willkommen ist und mit rassistischen Übergriffen gerechnet werden muss, für mich für die Zukunft ein absolutes No-Go ist.
Klein Loitz ist der Inbegriff einer längst vergangenen Ära, hier scheint die Zeit vor dem Mauerfall stehengeblieben zu sein. Ein gepflegter, kleiner Ort, der noch eine ordentliche Portion DDR-Charme versprüht. Auf dem sehr ruhig gelegenen Wohnmobilstellplatz steht außer mir nur ein weiteres, großes Wohnmobil dort.*) Es hat ebenfalls ein Bad Oldesloer Kennzeichen (OD), die Besitzer sind mit ihrer Enkelin bereits seit Dienstag hier und wollen noch ein paar Tage bleiben. Mir wäre es zu abgeschieden, aber für kleine Kinder bietet die Minipony-Ranch sicherlich Abenteuer pur.
*) Aufgrund des weit verbreiteten fremdenfeindlichen und rassistischen Gedankengutes bei mehr als der Hälfte der örtlichen Bevölkerung Satz auf das Wesentlichste eingekürzt und Link entfernt.
Laut einem Info-Flyer auf dem Stellplatz soll es im Ort ein empfehlenswertes Restaurant mit einheimischen Spezialitäten geben. Ich traue dem nicht ganz, habe ich doch im Dorf noch keinen einzigen Menschen gesehen, und Durchgangsverkehr gibt es hier auch weniger als keinen. Der Internet-Empfang ist miserabel, dennoch mache ich mich auf den Weg, das Gasthaus zu suchen.
300 Meter, heißt es in dem Flyer, in Wirklichkeit sind es gute zehn Minuten Fußweg. Auf der Hauptstraße treffe ich in der Zeit auf zwei Fahrzeuge, mehr Verkehr gibt es hier nicht. Ein schnörkelloses Hinweisschild an der Hauptstraße weist in eine Nebenstraße, an dessen Ende ein größeres Einfamilienhaus steht. „Restaurant Jagdhaus„, steht daran, es sieht sehr dunkel und geschlossen aus. Zu meiner Verwunderung lässt sich die Tür öffnen, im Gasthaus selber ist kein einziger Gast. Auf der idyllischen Terrasse treffe ich auf eine Handvoll Gäste, die gerade gehen wollen. Es scheinen ehemalige Dorfbewohner zu sein, man unterhält sich über den Vorbesitzer.
Der einzige Mitarbeiter an diesem Abend bedauert, dass der Koch gerade nach Hause gegangen sei, ich begnüge mich mit einem großen Bier für 2,-€ und komme mit dem Kellner ins Gespräch. Das Gasthaus sei weit über die Grenzen der Region bekannt und könne sich daher vergleichsweise gut halten; auch auf mich macht das Restaurant einen guten Eindruck. Wenn ich mal wieder in der Gegend sein sollte, kann ich mir durchaus vorstellen, dort einmal einzukehren.
Edit 30.05.2019: Aufgrund der derzeitigen politischen und gesellschaftlichen Situation vor Ort ist es jedoch mehr als unwahrscheinlich, dass ich dieser Gegend in naher Zukunft einen weiteren Besuch abstatten werde.
Zurück im Didimobil gibt es noch ein paar Wiener Würstchen und einen Schlummertrunk, bevor ich früh ins Bett gehe. Morgen, so habe ich gesehen, komme ich in der Nähe der Elbquelle vorbei. Wenn ich zeitig aufbreche, wäre das vielleicht ein lohnender Abstecher?
Polen
Freitag, 25.08.2017
Ich schlafe tief und fest, als es an der Tür klopft. Schlaftrunken schaue ich nach, die nette Besitzerin des Stellplatzes kommt zum Abrechnen (gestern Abend war niemand mehr da). Sie habe von meinen Nachbarn gehört, dass ich heute morgen früh aufbrechen wolle, und sie entschuldigt sich, dass sie mich geweckt hat. Wie spät es denn sei, frage ich. Halb zehn, antwortet die Gute. So gut und so ruhig wie auf diesem Stellplatz habe ich vermutlich noch nirgends im Didimobil geschlafen. 🙂
Das Badezimmer(!) mit Waschbecken und Dusche ist riesig, die Dusche schön warm und alles pikobello sauber. Wer auf der Durchreise Richtung Polen ist, dem kann ich diesen Stellplatz wärmstens empfehlen.
Edit 30.05.2019: Aufgrund der derzeitigen sehr fremdenfeindlichen und rassistischen Stimmung in der Gegend kann ich dringend von einem Besuch abraten.
Um kurz nach zehn verlasse ich Klein Loitz und bekomme den nett gemeinten Hinweis, dass die Straßen in Polen in einem katastrophal schlechten Zustand sein sollen. Die waren wohl noch nie in Albanien? 😉
Bis nach Bad Muskau sind es etwa zwanzig Minuten, hier überquere ich die Elbe Oder Neiße und befinde mich mitten auf einer Art „Basar“, auf dem alle möglichen Produkte – hauptsächlich Zigaretten, Alkohol und (vermutlich unechte) Markenwaren – zu Spottpreisen verscherbelt werden. Łęknica heißt der Ort, der auf polnischer Seite nahtlos an die Grenzbrücke anschließt.
Ich habe keine Lust auf diesen „Billigtouristen-Nepp“ und lasse den Ort schnell hinter mir. 722 Kilometer bis in die Ukraine, verkündet das Schild am Ortsausgang. Wäre auch eine Überlegung wert, aber auf mich wartet ein Hockeyspiel und ganz viele liebgewonnene Menschen.
Wer mich kennt (1) weiß, dass ich die Nebenstraßen bevorzuge, um ein Land kennenzulernen. Knapp 200 Kilometer habe ich Zeit, mir einen ersten Eindruck von dem zwanzigsten Land außerhalb Deutschlands zu verschaffen, welches das Didimobil mit mir bereist. Der erste Eindruck bestätigt die „Warnung“: Die Nebenstraßen sind tatsächlich in einem vergleichsweise schlechten Zustand.
Wer mich kennt (2) weiß, dass ich Navigationssysteme nicht mag und daher lieber auf die Landkarte (wenn auch inzwischen meist digital) zurückgreife. Dumm nur, dass Google als digitale Karte fast ausschließlich ehemalige deutsche Namen für die schlesischen Ortsnamen verwendet, während die Straßenschilder verständlicher Weise alle die polnischen Namen ausweisen. Und so kommt der erste „Verfahrer“ recht bald.
Vielen Dörfern merkt man vom Baustil her die deutsche Vergangenheit an, in Brandenburg sieht es durchaus ähnlich aus. Bloß, dass man hier tatsächlich das Gefühl hat, sich in der Mitte des letzten Jahrhunderts zu befinden.
Die Droga wojewódzka 350, die Landstraße 350, führt parallel zur neuen Autobahn „über die Dörfer“ nach Bunzlau, ausgeschildert ist ein Ort mit dem Namen Bolesławiec. Ich nehme an, dass dies der polnische Name für Bunzlau ist und folge den Wegweisern.
Ich komme eher langsam vorwärts, die Straßen machen den Eindruck, teilweise noch aus der Mitte des 20. Jahrhunderts zu stammen. Unterwegs bestätigt sich der Eindruck, in eine Kopfsteinpflaster-Straße ist die Jahreszahl 1937 mit dunklen Steinen eingearbeitet.
In Bolesławiec halte ich an einem Supermarkt an. Ob man mit Karte zahlen kann, frage ich einen Mitarbeiter, allerdings scheint hier niemand deutsch oder englisch zu sprechen und so verweist man mich an eine kleine Wechselstube. Na gut, denke ich, und tausche mutig 50,-€ um. Etwas über 200,- Zloty sind das. Ich kann jetzt beruhigt einkaufen gehen, die Küchenrolle im Didimobil ist aufgebraucht – und natürlich bin ich auf der Suche nach dem leckeren Brombeer-Schnaps. 😉
Acht Flaschen Schnaps (Brombeer, Heidelbeer, Apfel und eine Flasche Pflaume für den Sohn 😉 ), ein Sixpack polnisches Bier und eine Küchenrolle, das sollte für 50,-€ drin sein. Ist es auch, und irgendwie bleibt noch eine ganze Menge Restgeld übrig.
Nicht nur das fremde Geld, sondern auch die fremde Sprache machen mir zu schaffen. Eine Straßensperrung ist angekündigt, für mich jedoch unentzifferbar, und so lande ich unfreiwillig vor einem gesperrten Abschnitt der Straße nach Jelenia Góra (Hirschberg). Verzweifelt starte ich widerwillig die google maps Navi-Tante, die vor Schreck erst einmal von der gewohnt unfreundlichen Zicke auf eine überaus freundliche, aber gleichwohl nervtötende Stimme umstellt. Weiser als die Original-Tante ist sie aber auch nicht, wie das untenstehende Video eindrücklich beweist:
Ich stelle also wieder um auf „manuelle Navigation“, fahre mitten durch den Wald und vorbei an einem „Märchenschloss“ und erreiche letztendlich Jelenia Góra, wo die Straße hinauf zur Schneekoppe und damit zur Grenze nach Tschechien beginnt.
Der Anstieg auf die Passhöhe ist auf polnischer Seite sehr angenehm für das Didimobil. Die relativ konstante Steigung zieht sich über viele Kilometer und überschreitet gefühlt die Zehn-Prozent-Marke zu keiner Zeit wenn man bedenkt, dass sich der Pass auf gut 1.000 Höhenmetern befindet. Ausgeschildert ist die Straße ins tschechische Malá Úpa hingegen nicht und muss auf der Landkarte mühsam gesucht werden.
Auf dem Pass befinden sich zwei kleine Bauden auf polnischer Seite; auf tschechischer Seite grenzt nahtlos der kleine Ort Malá Úpa an. Da ich noch etwas polnisches Geld habe, beschließe ich in einer der Bauden einzukehren.
Die Speise- und Getränkekarte in der kleinen Baude ist unglücklicher Weise ausschließlich auf polnisch, sodass ich befürchte, ohne kleine Stärkung wieder weiterfahren zu müssen. Zum Glück treffe ich auf Grzegorz, einen jungen Mann, der in Brüssel arbeitet und neben Englisch auch noch recht gut Deutsch spricht. Wir unterhalten uns dennoch auf Englisch, und er übersetzt das Speisenangebot für mich. Ich trinke einen Kaffee und teste die polnische Spezialität Bigos, ein Gericht mit Sauerkraut, Kohl und Fleisch. Klingt sehr lecker und ist es auch.
Wir unterhalten uns eine ganze Weile; über Europa, Sprachen, Kultur, Geschichte und merken kaum, wie die Zeit vergeht. Auch mit der herzlichen Besitzerin der Baude kommen wir ins Gespräch, sie hat früher in mühsamer Handarbeit Gussformen für filigrane Spielzeugfiguren hergestellt. Sehr beeindruckend. Fast zwei Stunden später verabschieden wir uns, ich wollte schon längst in Hradec Králové sein, Grzegorz eigentlich noch auf die Schneekoppe wandern (gut fünf Kilometer Fußmarsch)
Gut 30 Kilometer vor Hradec Králové begegnet mir das erste Hinweisschild auf den örtlichen Eishockeyverein: Mountfield HK. Bislang dachte ich immer, Mountfield wäre ein Kunstname wie Fischtown Pinguins (sic!), werde später aber feststellen, dass es sich dabei um eine Gartengeräte-Kette handelt und diese als Sponsor die Namensrechte gekauft haben.
Hradec Králové kündigt sich kurz darauf auf den ersten Wegweisern an, von der polnischen Grenze sind es knapp 1,5 Stunden Landstraße bis zum Campingplatz. Wirklich einladend sieht die Stadt auf den ersten Blick nicht aus, dieser erste Eindruck soll sich aber noch als Irrtum herausstellen.
Der Campingplatz hat noch freie Plätze, auch den Chefkoch darf ich schon ankündigen. Er plant, die gesamte Strecke in einer Tour durchzufahren und heute Nacht anzukommen. Er dürfte sogar noch auf den Platz fahren, heißt es, die Rezeption sei 24 Stunden geöffnet.
Der Platz selber ist ein großer, etwas in die Jahre gekommener Familienpark an einem Badesee mit Angeboten wie Paintball, Fahrradverleih, Klettergarten uvm. 9,-€ pro Nacht ist dafür jedoch mehr als akzeptabel.
Ich schnorre mir 25,- Kronen (umgerechnet rund 1,-€) für den Linienbus in die Stadt zusammen, da ich auf dem Weg von Polen zum Campingplatz keine einzige Bank gefunden habe, und treffe mich mit einigen Engländern sowie dem Manager und der Zweitmutter in der doch tatsächlich sehenswerten Altstadt auf ein leckeres tschechisches Bier für 1,30€/halber Liter und genieße den Abend. Der letzte Bus zum Campingplatz fährt gegen 23:30, hat jedoch zwei Fußnoten: Die eine besagt etwas von „Zastavka“ und „Most“, was vermutlich soviel bedeutet wie „Haltestelle an der Brücke“, die andere Fußnote ist unentzifferbar. Google übersetzt es in etwa mit „Gehen Sie besser zu Fuß“. Ich habe auf Fred-Feuerstein-Bus keine Lust und warte auf den Chefkoch und seine Frau. Gegen 1 Uhr nachts sind sie tatsächlich in Hradec Králové und nehmen mich mit zum Campingplatz. Wir klönen noch lange und sind gegen vier Uhr morgens endlich im Bett.
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