Das Hinterland
Samstag, 20.08.2016
Es ist halb neun, die Sonne gibt bereits ihr Bestes und sorgt dafür, dass ich mal wieder ungewohnt früh aufstehe, bevor ich noch in Flammen aufgehe. Als ich von der Dusche komme, kommt mir bereits der Platzbetreiber entgegen: Seine Frau hat zum Abschied noch einen kalten Café Frappé gemacht. Die Gastfreundschaft der Albaner ist nach wie vor unbeschreiblich. ♥
Nach einem Tankstop – natürlich stilecht mit Tankwart – soll mich die heutige Etappe nach Gjirokastër führen, eine gute Autostunde landeinwärts von Sarandë. Unterwegs komme ich am Syri i kalter vorbei, einem weiteren Blauen Auge und gerade im Sommer das vermutlich beliebteste Ausflugsziel Albaniens. Bereits morgens um zehn geht auf der kleinen Zufahrtsstraße nichts mehr, kompletter Verkehrsstillstand. Ich beschließe, mir die Naturquelle ein anderes Mal anzuschauen, drehe um und setze die Fahrt über den 572 Meter hohen Muzina-Pass fort.
Auf der anderen Seite des Mali i Gjerë-Gebirges windet sich die Straße in mehreren engen Kurven hinab in die Dropull-Ebene des Drino-Flusses zwischen der griechischen Grenze und Gjirokastër und bietet wunderschöne Weitblicke in das Tal, dessen Dörfer sich meist an den Rändern zu den Berghängen befinden.
Aufgrund der Nähe zu Griechenland wohnt in dieser Gegend eine große Griechische Minderheit, weshalb die Straßenschilder entlang der gut ausgebauten SH-4 (Europastraße E853) sogar bis nach Gjirokaster zweisprachig ausgeführt sind.
Gjirokaster ist eine der wenigen gut erhaltenen alten Städte Albaniens, deren Geschichte bis ins dritte Jahrhundert vor Christus zurückreicht. Auf halbem Weg den Hang hinauf befindet sich ein kleiner Parkplatz, auf dem ich einen der letzten Plätze ergatter. „Parken nur mit Parkschein“, deutet ein Schild, und in der Tat haben meine Nachbarn einen parkschein-ähnlichen Zettel in der Windschutzscheibe liegen. Da weit und breit weder ein Parkwächter, noch ein Parkscheinautomat zu sehen sind, spreche ich zwei Polizisten auf der anderen Straßenseite an. Sie sprechen nur albanisch und etwas italienisch. Ich zeige auf das Didimobil und bekomme freudestrahlend zu hören: „Germani? Is free, no pagare. Welcome!“
Ich mache mich zu Fuß auf in die steilen Gassen der Altstadt. Gjirokastër ist die Geburtsstadt des ehemaligen Diktators Enver Hoxha, weshalb sie vermutlich 1961 zur Museumsstadt ernannt wurde. Dem Schicksal der meisten anderen Städte, in denen die Altstädte kommunistischen Plattenbauten weichen mussten, konnte Gjirokastër so entgehen.
Seit 2005 ist Gjirokaster aufgrund seiner osmanischen Architektur Teil des UNESCO-Weltkulturerbes.
In den verwinkelten Gassen scheint die Zeit seit Jahrhunderten stehengeblieben zu sein. Neben Cafés gibt es unzählige kleine Handwerks- und Teppichläden, die verwaisten Souvenirläden sind auf den großen Touristenansturm vorbereitet, den es noch nicht gibt. Um so angenehmer ist das Schlendern über das jahrhundertealte Kopfsteinpflaster unter der erbarmungslosen Sonne.
Unter Anstrengung erklimme ich den Burgfelsen. 150,-LEK, etwa 1,20€ kostet der Eintritt in das gut erhaltene und angenehm kühle Gemäuer aus dem 12. Jahrhundert. Im Inneren befindet sich ein kleines Waffenmuseum mit Kriegsgerät hauptsächlich aus den beiden Weltkriegen.
Im Außenbereich ist hauptsächlich der antike Uhrturm gut erhalten, davor befindet sich eine große Bühne, auf der alle fünf Jahre das größte albanische Folklore-Festival stattfindet.
Ein bekanntes Motiv ist das Wrack eines in den 1960er Jahren notgelandeten US-amerikanischen Kriegsflugzeugs, welches man als Teil des Waffenmuseums auf die Burganlage verbrachte und welches seit dem hoch über der Altstadt der 20.000-Einwohner-Stadt thront.
Inzwischen ist es halb eins, im Schatten herrschen weit über 30°. Laut Google Maps sind es etwa 120 Kilometer bis nach Berat, einer weiteren sehenswerten Altstadt und ebenfalls UNESCO-Weltkulturerbe. Da die Zeit drängt (in sechs Tagen muss ich bereits wieder im 2.500 Kilometer entfernten Frankreich sein…) beschließe ich, die sehr sehenswerte Stadt Gjirokastër wieder zu verlassen und mich auf den Weg nach Berat zu machen.
Unterwegs schlägt Google mir eine gut 50 Kilometer längere Route vor. 2 Stunden 45 für 160 Kilometer. Auf der Landkarte führt eine „gelbe“ Hauptstraße in gut 100 Kilometern nach Berat, welche sogar an einer Wegegabelung ausgeschildert ist. Google veranschlagt dafür knapp 4,5 Stunden.
Ab Tepelenë folgt die Straße dem Tal des Vjosa-Flusses. Ein großes Staudamm-Projekt bedroht diese wunderschöne Naturlandschaft, ist derzeit aber zum Glück auf Eis gelegt.
Die schmale, aber gut ausgebaute Straße schlängelt sich entlang des tief türkis schimmernden Flusses, welcher für ein angenehm kühleres Klima sorgt.
Nach etwa 25 Kilometern erreiche ich die kleine Stadt Këlcyra mitten im Nirgendwo. Die Straße kommt an eine Gabelung, Verkehrsschilder gibt es hier nicht mehr. Internet gibt es ebenfalls nicht, und so bleibt Google Maps unbrauchbar. Ich frage einen Einheimischen, oder versuche es zumindest. Berat? Berati? Irgendwann versteht er mich doch, schaut mich und das Didimobil leicht entsetzt an und deutet auf die nach links führende Straße.
Auf den nächsten 20 Kilometern habe ich die Straße für mich allein. Urlaub, gute Laune, Sonnenschein: Da bemerkt man die fehlenden Fahrzeuge auf der Straße einfach nicht.
Das Fehlen jeglichen Fahrzeugverkehrs hätte ansich eine Warnung sein müssen. In Ballaban endet die asphaltierte Straße, einzig ein Schotterweg stellt die weitere Verbindung Richtung Berat dar. Es ist 14 Uhr, noch 70 Kilometer bis Berat.
Die Straße wird enger und gleichzeitig schlechter. Google bietet nur eine ganz grobe Übersicht über die Straße, zu schlecht ist das Internet in dieser Gegend.
Wikipedia schreibt:
„Die nach Norden führende Straße in Richtung Berat ist nur auf wenigen Kilometern asphaltiert und über weite Strecken nur sehr schwer zu befahren. Trotzdem findet sich diese von den Italienern in den 1930er Jahren erbaute und seither kaum ausgebaute Strecke in vielen Karten als wichtige Durchgangsroute.“
Die Straße wird von Kilometer zu Kilometer schlechter, die Gegend einsamer und einsamer. Nach einer Dreiviertelstunde überholt mich ein SUV mit italienischem Nummernschild. „Der scheint es eilig zu haben“, denke ich mir. Zwei Kilometer weiter steht er mit einem kaputten Reifen am Straßenrand.
Ich habe keinen Wagenheber dabei, biete ihm aber an, ihn mit in den nächsten Ort zu nehmen. Er ist dankbar, und er ist Albaner. Mit italienischem Nummernschild. Hier in der Abgeschiedenheit der Berge baut er Kannabis an, davon könne man sehr gut leben. Wenn wir im nächsten Dorf sind, so bietet er mir an, dann rauchen wir erst einmal einen Joint. Ich lehne dankend ab, schließlich muss ich ja noch fahren. Aber mitnehmen könne ich doch wenigstens etwas. Für heute Abend.
Ich handel ihn auf einen kleinen Raki herunter. Gefällt mir zwar auch nicht sonderlich, da ich normalerweise beim Autofahren komplett ohne Alkohol unterwegs bin, aber manchmal erfordert die Diplomatie seine Opfer. 😉
Gegen 16 Uhr erreichen wir sein Dorf, der Empfang ist mehr als herzlich, schließlich habe ich gerade so etwas wie den örtlichen Mafia-Boss vor einem Desaster gerettet. Wirklich keinen Joint? Und wirklich kein Gras mitnehmen? „Hier oben gibt es keine Polizei, da brauchst Du keine Angst haben.“ Der „kleine“ Raki fällt zu meinem Leidwesen verdammt groß aus. Wir plaudern noch ein wenig über Gott und die Welt. Nach Berat soll ich die kleine – aber geteerte – Nebenstraße den Berg hinunter nehmen und dann über die Hauptstraße einen inzwischen 100(!) Kilometer langen Umweg in Kauf nehmen. „Rruga multo bene!“, die Straße sei – zumindest am Ende der kleinen Bergstraße – in einem sehr guten Zustand. Die kurze, direkte Straße wird noch schlechter als das Stück bisher. Zeitlich ist es gleich. Selbst Google Maps benennt für die 40 Kilometer direkten Weg eine Zeit von 2:45, für die 136 Kilometer „langen“ Weg ebenfalls.
Die Verabschiedung ist gewohnt albanisch herzlich, seine Mafia-Freunde machen sich mit einem Jeep, Wagenheber, Ersatzrad und Abschleppseil auf den Weg zu dem Liegenbleiber und ich begebe mich auf eine abenteuerliche Asphaltstraße, auf der ich den Bulli gleich zwei Mal bei Schrittgeschwindigkeit auf dem Boden aufsetze. :O
Am Ende der Bergstraße erreiche ich wieder die perfekt ausgebaute SH-4, die 95km/h fühlen sich an wie Fliegen. Gegen 19 Uhr erreiche ich einen kleinen Campingplatz kurz vor Berat, der sich wie so oft im Garten eines größeren Hauses befindet. Er ist fast restlos belegt, eine spanische Luxus-Wohnmobil-Schlachtschiffgruppe, die ich bereits auf dem Weg nach Ksamil getroffen hatte, hat es sich dort bereits bequem gemacht. Ein kleines Plätzchen findet sich dennoch.
Im Haus ist ein kleines Lokal eingerichtet, welches von der Familie (Vater, Mutter, jugendlicher Sohn) geführt wird. Ich bin der einzige Gast, erfreue mich an der funktionierenden Klimaanlage und genieße ein Bier, während ich das schnelle W-Lan für die Aktualisierung meines kleinen Facebook-Blogs nutze. „Magst Du Spaghetti?„, fragt mich die Mutter. Sie hat für ihre Familie gekocht und möchte mich gerne zum Essen einladen. Spaghetti mit heute morgen selber frisch gefangenem Fisch und dem Nationalkäse. Bezahlen darf ich nicht: „Du bist doch unser Gast!„
Die Spanier bleiben den ganzen Abend über in ihren Schlachtschiffen und schauen fern.
Hallo Didi,
einen tollen Blog hast du hier auf die Beine gestellt Den kleinen Campingplatz bei Berat wollen wir auch noch irgendwann besuchen.
Bleib gesund und liebe Grüße
Jasmin